Ironisches Trauerspiel – Die Empathielenkung in Ovids Erzählung über Narziss und Echo

Dass der mythologische Stoff aus Ovids Erzählung über Narziss und Echo gleichsam auch den Ausgangspunkt zur Festlegung psychischer Erkrankungen voraussagt, ist nichts Bahnbrechendes. Die Annahme hierin spiegele sich jedoch nur eine zur Manie ausschweifende Selbstvernarrtheit, gerät zu kurz. Betrachtet man Narziss nun unter psychoanalytischen Gesichtspunkten, so kann man ihm kaum noch vorwerfen der anmutigen Echo das Herz gebrochen zu haben. Dem Ganzen liegt v.a. ein geradezu schillerndes Maß an Ironie zugrunde.

Die superschönen Jünglinge und jungen Frauen sind Figuren, die eine tief problematische Geschichte haben.

– Winfried Meininghaus

Narziss ist ein Bastard. Seiner Geburt liegt eine Vergewaltigung zugrunde: „[…] die wasserblaue Nymphe Liriope, die einst der Cephisus mit den Windungen seines Stromes umschloss; der so in seinen Wellen Gefangenen tat er Gewalt an. Aus ihrem schwangeren Schoß gebar die wunderschöne Nymphe ein Kind, das schon damals voller Liebreiz war; sie nennt es Narcissus.“ Meine Empathielenkung geht fortan in eine Richtung, in der ich dem vaterlosen Narziss eigentlich nur Gutes zu wünschen gedenke, denn die Tatsache, dass er ohne männliche Bezugsperson aufwächst, die ihm nebst der Mutter die Dinge der Welt erklärt, muss in ihm zwangsläufig eine Leere hinterlassen, die er dann – wie bekannt ist – mit unreflektierter, aber dafür umso überschwänglicher Selbstliebe zu kompensieren pflegt. Dadurch, dass sein Gespür für die Empfängnis und Weitergabe von Liebe nie sensibilisiert werden konnte, ist es nur folgerichtig, dass seine Perspektive hinsichtlich dieses fundamentalen Gefühls vollkommen pervertiert ist. Auch hierin liegt eine Wahrheit begründet, die dem medizinischen Krankheitsbild einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung den Namen gibt: wer keine Liebe erfährt, kann sie auch nicht weitergeben. Kompensation findet oftmals durch Selbstbezogenheit oder durch autoaggressives beziehungsweise Suchtverhalten statt. Während gegenwärtige Narzissmus-Patienten oftmals mit Abhängigkeiten zu kämpfen haben, muss der mythologische Narziss zusehen, dass er nicht vollkommen süchtig nach sich selbst wird. Wie uns Ovid jedoch erzählt, ist daraus leider nichts geworden.

Feststeht, dass man unter diesen Gesichtspunkten dazu neigen wird, Narziss zu bemitleiden, denn bloß aufgrund seiner degenerierten Emotionalität kann er Liebe bei niemand anderem als sich selbst finden. Dies ist – wie Ovid schreibt – sein Schicksal. Das Schicksal als Sinnbild absoluter Unausweichlichkeit wirft in diesem Kontext richtigerweise die Frage auf: Wie kann man Narziss einen Vorwurf machen?

Das Ironische an Ovids Überlieferung ist nun, dass Narziss darauf angewiesen ist, dass man ihm Liebe beibringt. Die hübsche Echo würde gerne, kann jedoch aufgrund des auf ihr lastenden Fluches nur die letzten Bruchstücke jener Sätze rezitieren, die sie unmittelbar zuvor hört. Kurzum: Echo würde gerne, kann aber nicht und Narziss weiß nicht, dass er eigentlich sollte. Natürlich ist Narziss´ geschundenes Unterbewusstsein auch für Echo tragisch. Tragische Figuren sind allerdings beide, die nur aufgrund der miserablen Behandlung im Vorfeld, Wesenszüge entwickelt haben, die sie letztlich ins Verderben treiben.

Psychotherapeuten sprechen heute davon, dass narzisstische Persönlichkeitsstörungen oftmals auch mit Bindungsproblemen einhergehen, die in Ovids Geschichte zweifelsfrei skizziert werden: „Eher will ich sterben als dir gehören.“ Dieser Satz, welcher vermeintlich gemein anmutet, ist letztlich jedoch bloß das Begehren nach jener Liebe, die Narziss nie erfahren hat. Möglicherweise handelt es sich um eine Liebe, die er nie gelernt hat, als dass er die auf sich selbst projizierte Zuneigung nun als das normativste aller Gefühle überhaupt empfindet.

Narziss´ einseitige Selbstverehrung führt dann letztlich zu Echos Dematerialisierung. Der Charakter, der also durchaus gewillt gewesen wäre, Narziss vor seinem Tod zu bewahren, verstummt insofern, als dass sie nur der Widerhall ist, den wir heute noch hören, sofern wir in den Wald hineinrufen. So könnte man also meinen, dass immer dann wenn zwei sich schneiden, einer etwas mehr zu leiden hat. Auf den ersten Blick wirkt es tatsächlich so, dass Narziss als der kalte Herzensbrecher stilisiert wird, während man sich im ersten Moment auf Echos Seite stellen würde. In Wahrheit aber sind beide Charaktere Opfer ihrer Unfähigkeiten. Aus Narziss´ Einsamkeit (die letztlich auch entscheidend dafür ist, dass er die Ruhe und auch die Muße hat, um sich am Uferrand niederzulassen) entsteht die entsprechende Selbstergötzung, die aber nur solange aufrecht erhalten werden kann, als dass man sie nicht infrage stellt oder – um bei Ovid zu bleiben – trübt. Auch in dieser Szene wird eine Parallele zu der aus der Psychotherapie bekannten Narzissmus-Störung ersichtlich: Narzissten nämlich sind weitaus unsicherer, als sie vorzugeben scheinen. Ihr vermeintliches Selbstvertrauen, ein Gebilde aus selbstverherrlichender Scheinheiligkeit, hält sich nur dann aufrecht, wenn es andere einschüchtert und eben nicht zerstört wird. Und falls dies doch geschieht, dann zieht das Ganze in der Regel eine derart heftige Kränkung nach sich, als dass sich die betreffende Person am liebsten im Boden vergraben oder eben in einen Fluss werfen möchte. Dass Narziss aber gar nicht so ein Anti-Emphat ist, zeigt sich an der Stelle, als beschrieben wird, dass dieser auch in Orten eine gewisse Anmut erkennt, die ihn in liebreizendes Schwelgen zu versetzen vermag. Allein die Tatsache, dass er dieses Gefühl nicht auf Menschen übertragen kann, ist dem Umstand geschuldet, der bereits eingangs erklärt wurde. In besagtem Ort findet Narziss nun – wie bei Ovid beschrieben – Hoffnung. Hoffnung funktioniert hier wahrhaftig als letztes Prinzip, um doch noch aus der Falle selbstzerstörender Ich-Verehrung zu entkommen. Da jedoch selbst dieses Gefühl erlischt, kann der Tod, der ihm folglich geweiht zu sein scheint, nicht mehr allzu fern sein. Wie die Geschichte ausgeht, das wissen wir ja.

Am Ende muss man konstatieren, dass es gerade die Geschichte des unsagbar Schönen ist, der paradoxerweise – also zumindest ganz entgegen dem Gedanken der Evolution – zur Nichtproduktion führt. Auch hierin artikuliert sich freilich eine Dynamik des Begehrens. Frei nach dem Motto: Man will das, was man nicht haben kann. Dass Schönheit nun bei Narziss eher zur Unfruchtbarkeit führt, wenngleich – und dies wusste schon Darwin – Schönheit doch eigentlich den Reproduktionserfolgt begünstigt, zeigt auch, in welchem Maße Mythen und die Realität auseinandergehen, heißt es doch immer, dass Mythen zuverlässige Analogien zu den Problemen der empirischen Gesellschaft darstellen.

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